Artur
W E Y E R

Bild um 1937
Von links: Therese Klingspor geb. Schneider, Anna Oehm, Paula Weyer (mit Artur), im Hintergrund Frau Fuchs und Frau Büdenbender, Helferinnen an der Dreschmaschine, dann Nachbarin Lina Giebeler (Haus Reckschmidt), Emilie Weyer und Oma Elisabeth

Bild um 1950
links: Artur Weyer

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Artur auf seiner NSU

Dreisber Geschichte(n)

„Der Stollen im Liesch“

sz Dreis-Tiefenbach. Am 4. Februar 1944 gab es den ersten Luftangriff auf Dreis-Tiefenbach. Dabei kamen einige Zwangsarbeiter und eine Rot-KreuzHelferin ums Leben. Das bildete den Anlass; im Liesch einen Stollen zu bauen.

Auf dem Grundstück des Bergmanns Klein gab es schon einen Keller, den dieser in den steil anstehenden Fels am Rande des Grundstücks gebaut hatte. Nun wurde dieser Keller zum Eingangsbereich des Stollens am Liesch. Artur Weyer war damals ein Kind, das in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte und den Verlauf der Arbeiten interessiert verfolgt hat. Noch heute kann er sich an viele Einzelheiten erinnern, die sich im Stollen und um den Stollen herum zugetragen haben.

Schon bald nach Fertigstellung des Luftschutzraumes hat er manche Stunde tief im Liesch verbracht. Er hat sogar Erinnerungsstücke aus dieser, Zeit bis heute aufbewahrt. Gerade die Anschauung der damals zur Verfügung stehenden Geräte vermittelt einen beklemmenden Eindruck vom Leben in dieser Zeit.

Artur Weyer erzählt alles über den Stollen im Liesch im Rahmen der Vortragsreihe „Dreisber Geschichte(n)“ des „Heimatvereins Alte Burg“ Dreis-Tiefenbach am Sonntag, dem 14. Juni 2015, um 16 Uhr im Haus Pithan, Im Bruch 4, in Dreis-Tiefenbach.

Der Vortrag

„Der Stollen im Liesch“

Dreisber Geschichte(n) vorgetragen am 14. Juni 2015 im Heimatverein „ALTE BURG“.
Erinnerungen als 10-jähriger Schüler.

von Artur Weyer

Vorgeschichte:
Der zweite Weltkrieg tobte schon seit 1939 in Europa zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Viele deutsche Städte wurden schon von den alliierten Luftangriffen bombardiert und erheblich zerstört. Unsere Siegerländer Heimat war bis dahin noch von gezielten Bombenabwürfen verschont geblieben. Es waren bis dahin noch sehr wenig Luftschutzeinrichtungen vorhanden. Das sollte sich aber schlagartig ändern. Am 4. Februar 1944 wollte sich der Winter nochmal in seiner vollen Größe zeigen und schickte uns tiefe Wolken mit sehr dichtem Schneetreiben. Das war ja nicht weiter schlimm, wenn nicht das angstmachende, tiefe Gebrumme von Flugzeugen gewesen wäre, die ganz knapp über den tiefen Wolken flogen. Dazwischen hohe Motorengeräusche, vermutlich von deutschen Jagdflugzeugen. Diese hatten das feindliche Geschwader vermutlich ganz ordentlich durcheinander gebracht.

Ich war bei meinem Freund Karl-Wilhelm Michel gewesen und wollte schnell nach Hause laufen. Als ich vor Michels Haustüre stand, bekam ich solche Angst, dass ich nur eine Haustüre weiter kam und bin bei Oehms reingelaufen. Ich landete in Oehms Wohnzimmer. Oma Rosa war allein zu Hause. Schränke und Geschirr wackelten von den Fluggeräuschen. Ich hielt mich am Tisch fest. Dieser rutschte hin und her. Oma Rosa war in die Küche gelaufen, die ein Fenster nach Süden hatte. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien und die Flugzeuge waren nur noch von weitem zu hören. Es ist anzunehmen, dass das Geschwader ungefähr zwischen Netphen und Dreis-Tiefenbach auseinander getrieben wurde. Ein Teil flog über Oelgershausen und warf über der Seelbach, Dreisbacher Berg und den Wiesen unterhalb vom Eisenbahnbedarf die Bomben ab. Der andere Teil flog Über das Siegtal, oberhalb von der Fa. Kölsch-Fölzer-Werke über die Haardt zum Zinsenbachtal und bogen dort ab zum Heckersberg, Wernsbach, Alte Burg und warfen auf dieser Strecke ihre Bombenlast ab. Ich war zu Oehms Oma in die Küche gelaufen und wir sahen noch durch das Küchenfenster wie die Bomben hinter der Fa. E.u.W. Berg in das Gelände der Alten Burg fielen. Oma Rosa rief laut: „Os Hubert, os Hubert.“ Dieser arbeitete als Zimmermann bei der Fa. Berg. Als die Luft wieder rein war, lief ich nach Hause.

Nachdem ich über die Straße gelaufen war, kamen mir drei Frauen entgegen. Wie aus einem Munde sagten sie: „Wo kömmst du da her?“ Ich sagte, dass ich bei Oehms war. Die drei Frauen waren: meine Mutter, meine Tante Mielchen und meine Bochumer Oma in der Mitte. Diese musste festgehalten werden, weil sie einen Oberschenkelhalsbruch hatte. Solche Brüche wurden früher noch nicht operiert, sie mussten von selbst heilen.

Wo wollten die drei hin? Und ich natürlich hinterher. Wir vier und einige andere Nachbarn auch liefen in den kurzen Stollen hinter Kleins Haus, der von Bergmann Klein vor vielen Jahren als Lagerraum in den Felsen gebuddelt worden war. Da nun das Flugzeuggetöse schon längst vergangen war, gingen wieder alle nach Hause. Eine Sprengbombe hatte sich jedoch ins Wohngebiet verirrt und hatte das Haus von August Schwunk am Setzer Weg, sowie die Mauer und Teile der Katholischen Kirche Immaculata zerstört.

Bau des Luftschutzstollens im Liesch.

Hier beginnt meine eigentliche Geschichte des Luftschutzstollens im Liesch. Von den anderen Stollen in Dreis- Tiefenbach kann ich nichts berichten, da ich dazu keinen Bezug hatte.

Der Führungselite in Dreis-Tiefenbach war nach dem 4. Februar 1944 bewusst geworden, dass wir so gut wie keine Schutzeinrichtungen gegen Fliegerangriffe und Bombardierungen hatten. Es wurde schnellstens beschlossen, allenthalben Stollen in die felsigen Berge zu bauen. Der Lieschkopf war eine sehr zentrale Lage für das Mittel- und Oberdorf Dreis-Tiefenbachs. Es musste geprüft werden, ob der Lieschkopf die notwendige Felsmasse hatte. Nachdem Diplom-Ingenieur Heinz Stettner Felshöhe und Verlauf des Stollens ausgemessen hatte, gaben die Verantwortlichen Herren die Baugenehmigung. Die Verantwortlichen waren: Ortsgruppenleiter Albert Reuter, sein Stellvertreter Ernst Bosch, Schulrektor Albert Münker, Bürgermeister Ewald Müller, Karl Wilhelm und Frau Mathilde Gries. Weitere Zuständige sind mir nicht bekannt.

Bergmann Karl Klein musste seinen Abstellkeller räumen und los ging es. Da der Felsenkeller schon recht tief war, konnte direkt mit Sprengen begonnen werden. Ein leistungsfähiger Kompressor wurde besorgt und in Wilhelms (Braachs) Garage bugsiert, Rohrleitungen angeschlossen, Pressluftleitungen, Presslufthämmer und ca. 2 m lange Bohrer besorgt. Meist ältere Männer, die tagsüber zur Arbeit (meist in Rüstungsbetriebe) gingen, mussten abends bohren. Diese Arbeit war Pflicht. In gewisser Hinsicht war das auch eine Art von Nachbarschaftshilfe.

Bei den vielen Helfern kann es vorkommen, dass man den einen oder anderen Namen vergisst, deshalb werde ich an dieser Stelle keine Namen nennen.

Nachdem die ersten Bohrungen nach einem bestimmten System fertig waren, kam ein Sprengmeister aus Eiserfeld mit dem Fahrrad. Als Werkzeug hatte er dabei: Eine Tasche mit Dynamitpatronen, eine Rolle Zündschnur und einen langen, sehr geraden Stock, der in die Bohrlöcher passt und natürlich Streichhölzer, sowie ein Signalhorn.

Die Bohrlöcher, die ca. 1,50 m tief waren, wurden folgendermaßen gefüllt:
Zuerst die Dynamitpatrone mit der Zündschnur, dann selbstgemachte Steinstaubpatronen. Herr Gaumann brachte die Hüllen mit, die später von uns Jungen mit dem Bohrstaub gefüllt wurden. Die Zündschnüre waren unterschiedlig lang, damit die Schüsse nicht gleichzeitig losgingen und somit gezählt werden konnten. Nachdem alles vorbereitet war, ertönte das Signalhorn, alle in Deckung und ein Schuss nach dem andern ging los. Herr Gaumann fuhr weiter zur nächsten Baustelle. Nach zwei oder drei Tagen kam er wieder. Bis dahin musste das lose Gestein beseitigt sein, welches Aufgabe der Frauen‚ Mütter und Kinder war und neue Löcher gebohrt sein. Zuerst wurde das lose Gestein mit der Schubkarre räusgefahren. Je tiefer der Stollen wurde, desto weiter der Abtransport. Vor dem Stollen wurde dann eine Rampe angeschüttet, die zuletzt vorne ca. 2,50 bis 3,00 m hoch war und bis zu unserem alten Haus ragte. Auf diese Rampe wurde eine Feldschiene montiert bis in den Stollen vor Ort. Auf diese Schiene wurde eine Kipplore gesetzt und vorne am höchsten Punkt ein Prellbock aus Holz montiert, damit die Lore nicht abstürzte. Es war keine ungefährliche Arbeit für die Frauen. Deshalb wurde die Lore nie ganz gefüllt. Den Abtransport des Gesteins wurde von heimischen Fuhrleuten mit einachsigem Kohlenwagen und einem Pferd getätigt. Die Fuhrleute waren: Garde Gustav und Helln Gregor.

Nach vier Wochen war der Stollen durch, auch auf der anderen Lieschseite wurde gearbeitet, aber wegen dem Höhenunterschied und wegen dem Häuschen, in dem der Leichenwagen stand, nicht gesprengt.

Der Lieschstollen bekam auch ein Krankenzimmer, welches später verlängert wurde und schon den Anfang für die Weiterführung nach Zimmermanns Stollen und Bruchs Stollen war. Eine Verbindung kam nicht zustande, weil der Krieg zu unser aller Freude am 8. Mai 1945 zu Ende war.

Zurück zu unserem Stollen.
Folgende Arbeiten waren nach dem Durchbruch noch fällig:

  • Die Feldschienen wurden abmontiert und der Boden wurde gesäubert. Die Rampe wurde beseitigt. Die Treppe wurde eingeschalt und mit Beton gegossen.

  • Das „Krankenzimmer" bekam eine Holzverkleidung.

  • Die Eingänge bekamen einen Splitterschutz aus Splitbeton und eine Stahltüre, die man beidseitig schließen und öffnen konnte. Außerdem eine Blechtüre gegen den Luftdruck bei eventuellen Bombenabwürfen.

Die Sanitäreinrichtung war mangelhaft. Soweit es möglich war, wurde auch elektrisches Licht installiert, ansonsten nutzte man Petroleumlampen und Karbidlicht. Zuletzt wurden an beiden Seiten Holzbänke aus Lattenholz, welche unter dem Sitz eine Ablage für Koffer oder Taschen hatten, aufgestellt.

Jetzt war der Luftschutzstollen „gebrauchsfertig“. Es gab keine Sitzordnung, aber eine gewisse „Nachbarschafts- ordnung" hatte sich eingespielt und jeder hielt seinen Platz sauber.

Aufsuchen des Stollens bei Fliegeralarm war Pflicht und stand unter der Kontrolle der Bunkerwarte.

Nachgedanken!
Oft haben wir bei Fliegeralarm den Stollen aufgesucht. Sirenen waren überall im Dorf installiert. 3-mal lang = Voralarm, 3-mal kurz = Vollalarm, 1-mal lang = Entwarnung.

Radio, erst recht Fernsehen gab es nicht. Manche Leute hatten aber einen sog. Volksempfänger, mit dem sie den Luftlagebericht hören konnten. Unser Gebiet hieß: „Nordpol-Richard 4“ und wurde über den Sender „Silberfuchs“ (Giersberg) versorgt.

Wenn es hieß: Feindliche Verbände nähern sich über Waldbröl, dann gab es schon Voralarm. Ich als sehr ängstlicher kleiner Junge von 9 Jahren war oft als Erster im Stollen.

Gott sei Dank wurde Dreis-Tiefenbach von direkten Bombardierungen verschont.

Markante Ereignisse!
Es gab sicher viele nennenswerte Ereignisse, aber vier möchte ich hervorheben:

  1. Das Dauermotorengeräusch, als Kassel [am 22. Oktober 1943] bombardiert wurde.

  2. Der Luftangriff auf Siegen am 16. Dezember 1944.

  3. Der Dauerbeschuss, als die Front über uns hinwegzog. Wir saßen eine Woche ununterbrochen im Stollen.

  4. Trotz aller bestehenden Lebensgefahr gab es immer noch Menschen, die den Mut hatten, nach Hause zu gehen, um nach den Kühen, Ziegen und Hühnern und Katzen zu schauen, sie mit Heu, Stroh und Futter versorgten und auch schnell mal eine Suppe und ein paar Eier kochten, damit die Familie und die Nachbarn im Stollen etwas zu essen hatten.

Endlich war der Krieg am 8. Mai 1945 vorbei. Niemand mehr musste einen Stollen aufsuchen. Die Menschen konnten wieder befreit aufatmen. Vergessen wir nicht dafür dankbar zu sein, dass wir 70 Jahre in Mitteleuropa keinen Krieg mehr hatten. Hoffen wir, dass in den Krisengebieten der Welt der Kriegswahnsinn bald ein Ende hat.

In diesem Sinne grüßt Sie Artur Weyer

Erläuterung zu Nordpol-Richard-4
aus: Dr. Erich Baeumer: Aus der Bomben- und Bunkerzeit im Siegerland 1944–1945

[…] Da hörte ich zuerst von Primadonna sprechen. [Der Luftwaffensender Primadonna auf dem 424 Meter hohen Mönkeberg bei Kempen war im Zweiten Weltkrieg ein von der Luftwaffe zwischen 1944 und April 1945 betriebener Luftlagesender, mit einer Sendeleistung von 1,5 kW im Langwellenbereich zwischen 150 und 155 kHz, der die Bevölkerung in Nord-West-Deutschland über bevorstehende Luftangriffe warnte.] Das war eine Dienststelle der Luftwaffe, die auf einer Langwelle im Rundfunk zu hören war. Schon beim ersten Versuch empfing ich sie. Endlos reihten sich Buchstaben und Zahlen aneinander, anscheinend verschlüsselt und undeutbar. Dann erfuhr ich, wir lägen auf der waagerechten N- und auf der senkrechten R-Reihe, gesprochen Nordpol—Richard. In den folgenden Tagen nannte der Sprecher zuweilen außer den Buchstaben auch Städtenamen. Der Vergleich der Buchstaben für ziemlich weit voneinander entfernte Städte wie Münster, Frankfurt, Aachen, Kassel, erlaubte ein ungefähres Einteilen der Karte [einer sog. Drahtfunkkarte], und plötzlich erkannte ich, dass die Grenzlinien der Buchstabenreihen mit dem Netz der geographischen Breiten- und Längengrade übereinstimmten, jedoch die Breitengrade geviertelt, die Längengrade halbiert. Rasch wurden die Karten in Schul- und Handatlanten mit den Linien überzogen und neue einfache Karten gezeichnet. Außer den Buchstaben wurde immer noch eine Zahl genannt. Da die höchste Zahl 9 war, lag die Erklärung nahe: Eine weitere Unterteilung in 3 Reihen: 1–3, 4–6, 7–9. So ergab sich für Siegen-Weidenau Nordpol—Richard 4.

Sehr bald sah man überall in der Bevölkerung Karten, teils mit genauen, teils mit verzeichneten Netzen. Primadonna war in aller Munde, praktische Erd- und Heimatkunde trieben hingebend Leute, die früher kaum die Richtung nach Münster oder Gießen, geschweige denn Fulda oder Euskirchen wussten. „Ich war dieser Tage da oben in der Konrad-Ludwig-Gegend“, erzählte mir jemand ernsthaft; er meinte damit das Ruhrgebiet, durch das die waagerechten K- und L-Bänder gingen.

Ein Mann kam mit einem Gesicht voller Bitterkeit von seinem Rundfunkapparat und sagte dem Nachbarn über den Zaun: „Heute schon drei Angriffe auf Nordpol—Otto 3“, das hieß auf Köln, der Ort wurde nicht genannt, sein Name nicht vermisst und doch verstanden.

Wir malten uns in Anwandlungen von Galgenhumor aus, dass wir später einmal, wenn man wieder Vergnügungsfahrten mit dem Auto machen könnte, an einem friedensfrohen Sonntag in Marta—Richard 6 [Es muss 9 heißen] gut zu Mittag zu speisen, in Nordpol—Siegfried 8 Buttercremetorte mit Mocca oder Schokolade genießen und auf der Heimfahrt in Otto—Richard 2 eine Flasche Wein trinken wollten, damit meinten wir Berleburg, Marburg und Dillenburg.

(c) www.weyer.de.com · Letzte Änderung: 15. Dezember 2020